Ein Leben, in dem das Beantworten einer Mail, das Verstehen einer Bedienungsanleitung und das Lesen eines Zeitungsartikels zum alltäglichen Kampf wird. Für 800’000 Erwachsene in der Schweiz ist das Leben mit einer Lese- und Schreibschwäche Realität. Am 8. September, dem UNESCO Weltalphabetisierungstag, macht der Schweizer Dachverband Lesen und Schreiben auf das gesellschaftliche Phänomen Illettrismus aufmerksam. Tonja Bollinger, Verantwortliche für die Kommunikation des Schweizer Dachverbandes Lesen und Schreiben, gewährt hier Einblick in diese Thematik.
800’000 Menschen in der Schweiz haben eine Lese- und Schreibschwäche. Welche Ursachen führen dazu?
Tonja Bollinger: Die Gründe für eine Lese- und/oder Schreibschwäche sind oft komplex. Auch können mehrere Ursachen zusammenspielen. Zum Beispiel: Negative Erfahrungen in der Schulzeit, ungünstige Lebensverhältnisse oder kritische Lebensereignisse während der Kindheit, nicht oder zu spät erkannte Beeinträchtigungen wie Seh- oder Hörschwäche, aber auch Legasthenie und Aufmerksamkeitsschwierigkeiten können dazu führen. Dazu kommt auch noch, dass Fähigkeiten verlernt werden können, wenn man diese über längere Zeit nicht anwendet.
Wie werden Menschen mit einer Lese- und Schreibschwäche in ihrem Alltag von der Gesellschaft und dem Staat zurzeit unterstützt?
Bund und Kantone haben sich in dem 2017 in Kraft getretenen Weiterbildungsgesetz (WeBiG, Art. 13) gemeinsam zum Ziel gesetzt, den Erwerb und den Erhalt der Grundkompetenzen Erwachsener zu fördern. Zu den Grundkompetenzen gehören neben Lesen und Schreiben auch die Sprache, Rechnen und digitale Kompetenzen. Um Menschen, mit Schwierigkeiten in den Grundkompetenzen, zu unterstützen, setzen Bund und Kantone zahlreiche Massnahmen um. Es gibt Kurse und offene, niederschwellige Lernangebote, wie zum Beispiel die Lernzentren in den Kantonen Baselland und Basel-Stadt. In einigen Kantonen (LZ, ZG, SZ, AG, FR) gibt es auch Bildungsgutscheine. Informationen zu Bildungsangeboten im Bereich Grundkompetenzen finden Betroffene und Vermittlerpersonen unter: www.besser-jetzt.ch / Kostenloses Beratungstelefon: 0800 47 47 47.
Ist unsere Gesellschaft schon genügend auf das Thema «Lese- und Schreibschwäche» sensibilisiert?
Leider nein. Vielen Menschen ist nicht bewusst, dass es auch im Bildungsland Schweiz Erwachsene gibt, die Mühe mit Lesen und Schreiben haben. Der Schweizer Dachverband Lesen und Schreiben engagiert sich dafür, das Thema Illettrismus in der Öffentlichkeit und auf politischer Ebene bekannt zu machen und zu enttabuisieren.
Die letzte Statistik zur Lesefähigkeit erschien 2003. Die nächsten Zahlen sollen 2024 erscheinen. Welche Entwicklung erwarten Sie?
Wir gehen nicht davon aus, dass sich die Zahl deutlich verkleinert hat. Die Anforderungen steigen ständig. Im geschäftlichen und privaten Alltag müssen immer mehr Informationen in immer kürzerer Zeit gelesen und bearbeitet werden. Die Digitalisierung ist für Menschen mit einer Lese- oder Schreibschwäche oft eine zusätzliche Hürde, aufgrund der Informationsflut. Es besteht die Gefahr, dass sie abgehängt werden.
Durch die künstliche Intelligenz werden den Menschen beim Texte generieren und lesen immer mehr Arbeiten abgenommen. Ist es dabei noch wichtig, eine gute Lese- und Schreibfähigkeit zu haben?
Das ist eine gute Frage, die sich vermutlich erst in der Zukunft zeigen wird. Die künstliche Intelligenz kann aktuell sicher eine Unterstützung darstellen. Gute Lese- und Schreibfähigkeiten braucht es aber trotzdem noch, um im geschäftlichen und privaten Alltag zurechtzukommen.
Was halten Sie von Autokorrekturprogrammen?
Autokorrekturprogramme bieten eine gute Unterstützung. Allerdings muss man trotzdem gute Kenntnisse der Schriftsprache haben. Wenn das Korrekturprogramm mehrere mögliche Optionen zur Auswahl gibt, muss man ja immer noch selbst entscheiden, welche richtig ist. Beispiel: Ist im Kontext jetzt, «war» oder «wahr» richtig? Auch besteht die Gefahr, dass man «faul» wird und sich zu sehr auf die Programme verlässt. Das kann dazu führen, dass wir vergessen, wie man etwas schreibt, weil wir uns darin nicht mehr üben.
Unser Leben wird durch die sozialen Medien und Streaming-Plattformen immer mehr visuell geprägt. Hat diese Entwicklung eine Auswirkung auf unsere Lese- und Schreibfähigkeit?
Vermutlich schon. Gerade in sozialen Medien wird nicht besonders auf Rechtschreibung geachtet (z.B. auf die Gross-Kleinschreibung). Es geht in erster Linie darum, etwas schnell zu vermitteln. Wenn es irgendwie verstanden wird, reicht das schon. Oftmals wird auch Mundart verwendet z.B. in Chats. Ausserdem gewöhnt sich unser Auge an rasche, visuelle Information. Wir werden ungeduldig und lesen längere Texte nur noch quer.
In Bekanntenkreisen herrscht oftmals ein anderer Umgangston wie in der Arbeit. Man schreibt dann informell und auf Schweizerdeutsch. Wie beeinflusst dies das formelle Schreiben im Berufsalltag?
Im Schweizerdeutschen gibt es keine Regeln zur Rechtschreibung. Man kann sich also dahinter verstecken, wenn man Mühe mit der Rechtschreibung hat. Wenn man oft auf Schweizerdeutsch schreibt, entfällt wieder das «Üben» der korrekten Rechtschreibung, was sich dann im Beruf negativ auswirken kann.
Was wünschen Sie sich in Zukunft von der Schweizer Gesellschaft bezüglich Illettrismus?
Wir wünschen uns, dass die Gesellschaft alle Menschen bei der stetigen Entwicklung mitnimmt und respektiert. Es ist wichtig, dass Menschen, die Mühe mit Lesen und Schreiben oder anderen Grundkompetenzen (wie Rechnen oder digitale Kompetenzen) haben, nicht abgehängt werden. Einerseits heisst das, dass Bildungsangebote niederschwellig ausgebaut werden müssen, sodass alle Erwachsenen die Möglichkeit haben, ihre Kompetenzen im Lesen und Schreiben zu verbessern. Im Zusammenhang mit der Digitalisierung wünschen wir uns, dass Administrationen, Organisationen und Firmen sich bewusst sind, dass es Menschen gibt, die mit Lesen und Schreiben oder digitalen Geräten Mühe haben. Dass sie öffentliche Schalter und Zugänge offen lassen für Menschen, denen es schwerfällt, ein Formular online auszufüllen oder schriftlich Korrespondenz zu führen. Auch sollte es immer möglich sein, telefonisch eine Auskunft oder Beratung zu erhalten.
Interview von Lilly Rüdel
Der Schweizer Dachverband Lesen und Schreiben (DVLS) ist die nationale Dachorganisation für Grundkompetenzen. Der Dachverband engagiert sich für Betroffene und ist in den Bereichen Sensibilisierung, Beratung, Politik, Qualitätssicherung sowie Aus- und Weiterbildung von Kursleitenden aktiv. Der DVLS und seine Mitglieder setzen sich dafür ein, dass alle Menschen einen sicheren Umgang mit den Grundkompetenzen erlangen können. Am Weltalphabetisierungstag möchte der DVLS darauf aufmerksam machen, dass Lesen und Schreiben keine Selbstverständlichkeit sind.
Informationen zu Bildungsangeboten im Bereich Grundkompetenzen finden Betroffene und Vermittlerpersonen unter: www.besser-jetzt.ch / Kostenloses Beratungstelefon: 0800 47 47 47
Weitere Informationen:
www.lesen-schreiben-schweiz.ch